Die Geschichte meiner neuen Unternehmung startet mit einer kurzen Beichte. Ich führte vor zwei Jahren ein Streitgespräch mit meinem Vater. Hierbei versuchte ich ihm, seine Autorität zu entziehen, indem ich ihn mit der Aussage „er hätte es im Leben doch nur zu einem Lehrer geschafft“, verletzen wollte.
Nun hatte ich genug Zeit, um mir über diese Aussage Gedanken zu machen. Doch nicht nur über diese Aussage, sondern über mein gesamtes Leben. Hierbei bin ich zu folgender Erkenntnis gelangt: Nicht nur, dass ich damit falsch lag, sondern auch, dass ich nun selbst hauptberuflich zu einem Lehrer heranwachsen möchte. Wie ich genau zu diesem Entschluss gekommen bin, möchte ich anhand meiner Lebensgeschichte erzählen.
Ich wurde am 30.09.1985 in eine Familie mit einfachen Verhältnissen in Peja hinein geboren. Nach zehn Monaten habe ich bereits die Schweizer Grenze überquert und bin mit meiner Familie in Luzern gestrandet. Ich bin seit 1986 ein Secondo, bzw. ein Tricondi, da bereits mein Grossvater vor über 50 Jahren, im Luzerner „Schwanen“, als Portier arbeitete.
Meine ersten Schritte habe ich hier in der Schweiz gemacht. Des Weiteren lernte ich hier das Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben und Rechnen. Das ist auch heute noch nicht überall auf der Welt selbstverständlich. Auch zeitlich gesehen ist dies erst seit 40 oder 50 Jahren möglich: ein sogenannter Homo Novus, welcher Direktzugang zu den besten Bildungsinstitution der Welt hat.
Welche Erinnerungen haben mich in der Kindheit sonst noch geprägt? In der Schweiz haben wir jeweils Wochenendausflüge mit der ganzen Familie gemacht. Und wenn wir im Sommer die Wanderferien in Davos verbrachten, dann war ebenfalls die ganze Familie präsent. Wenn wir jedoch Ferien im Herkunftsland verbringen wollten, so konnte mein Vater nicht mitkommen. Also habe ich relativ früh gemerkt: da besteht ein Unterschied zwischen Ankunfts- und Herkunftsland. Dies war jedoch nicht der einzige auffällige Unterschied beim Vergleich zwischen Herkunfts- und Ankunftsland.
Da gab es noch das Thema mit dem Wasserhahn: Hier dreht man den Wasserhahn auf und kann sogar mit einer leichten Bewegung das Wasser wärmen, ohne es vorher über dem Holzofen aufzukochen. Im Herkunftsland hingegen gab es nur kaltes Wasser, dafür aber zwei verschiedene Lösungen: mütterlicherseits war es ein Brunnen in der Dorfmitte, väterlicherseits eine Wasserpumpe draussen vor der Tür. Wenn die Pumpe quietschte, so hörte es das ganze Dorf. Ohne mündliche Bedienungsanleitung, birgt die Pumpe gewisse Herausforderungen: Wenn der Druck nachlässt, weil die Pumpe bereits einige Stunden nicht verwendet wurde, so konnte man hoffen, dass man noch irgendwo Wasser in einem Behälter aufbewahrt hat. Mein Grossvater meinte: „lass Wasser oben hinein und bediene die Wasserpumpe mit schnellen Bewegungen“. Das dadurch erzeugte Vakuum zog das Wasser hoch. Bei meiner Mutter lief ich jeweils mit meinen Cousinen und Cousins runter zum Dorfbrunnen. Der Hinweg dauerte nur etwa eine halbe Stunde, der Rückweg fühlte sich eher nach einer Stunde an. Wir spazierten mit leeren Behältern dort hin. Unten angekommen, erwartete einem der Anblick von einem kleinen Paradies. Diese Gegend war im Sommer relativ heiss, aber rund um den Brunnen war es angenehm kühl. Durch die Baumkronen schimmerte das Sonnenlicht und spiegelte sich in den vom Brunnen aufspritzenden Wassertropfen. Der Anblick war unvergesslich. Wann immer ich einen Tiefpunkt im Leben erreichte, so schöpfte ich neue Energie, indem ich meine Augen für einen kurzen Moment schloss und mir diesen Anblick vor Augen hielt. Als Kind stellt man dann die Frage „Warum kauft ihr Euch nicht einfach einen Wasserhahn?“, worauf eine beklemmende Stille folgt. Darauf folgt die Folgefrage: Warum ist es im Herkunftsland nicht so wie im Ankunftsland?
Auch da merkt man Unterschiede: während im Ankunftsland fast alles gefragt werden darf, gibt es im Herkunftsland viele Frage, die auf keinen Fall in der Öffentlichkeit gestellt werden dürfen, teilweise nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Im Kopf stellt man sich die Frage trotzdem. Eine weitere Folgefrage taucht auf: Warum darf man im Herkunftsland gewisse Fragen nicht stellen? Die Rückmeldung darauf lautete: „Dies ist nun mal einfach so.“ Diese Aussage war keineswegs befriedigend, zumal wir in der Schule lernten, dass es auf fast jede Frage eine Antwort gibt. Wollten sie nicht antworten, da man anschliessend mit dem Finger auf jemanden zeigen muss? Auf wen denn? Auf andere Personen? Auf sich selbst? Ist denn die Schuldfrage überhaupt in der Lage, Lösungen zu liefern? Und vor allem: anstatt über Schuld zu sprechen, ist es wahrscheinlich sinnvoller, über Lösungen zu sprechen. Welche Lösungen bieten sich denn an?
In der Jugend stellt sich die Orientierungsfrage: Wo soll es mit der Flagge hin? Mein Name bedeutet übersetzt Flagge. Nach der Sekundarschule besuchte ich, dank meiner Beschützerin, das Kurzzeitgymnasium. Am Gymnasium Alpenquai kam ich mit Literatur in Kontakt, welche mich dazu veranlasste, die eigenen Wertvorstellungen, sowie die Vorstellung, welche man von der Welt hat, laufend zu hinterfragen. Um meiner Initialfrage „Wie man das Herkunftsland so gestalten kann, wie das Ankunftsland“ auf den Grund zu gehen, wählte ich das Schwerpunktfach „Wirtschaft und Recht“ aus. Ich schloss das Gymnasium im 2005 mit der Maturaarbeit über „Working Poor“ ab.
Weil mich die Hauptfrage nicht los lies, ging ich 2006 mit 20 nach Genf, einer internationalen Stadt, um nach möglichen Antworten zu suchen. Auch an der Universität in Genf hatten wir hervorragende Professoren. Am Wochenende pendelte ich oft nach Hause, um vom neu gelernten zu berichten. Eines meiner Schlüsselerlebnisse lieferte das Pendeln selber: die Geschichte des Röstigrabens. Zuhause im Dorf fragte man mich, wie es auf der anderen Seite des Röstigrabens sei. Ich fragte mich jeweils bei der Zugfahrt, wo dies genau ist. Ist es eine Markierung? Welche Markierung? Ist es ein Hof? Eine Wiese? Normalerweise hätte ich sofort nachgefragt, da ich jedoch erst kürzlich zum Eidgenossen in erster Generation wurde, war es mir fast schon peinlich, nachzufragen. Es war ein komisches Gefühl, der Einzige zu sein, der nicht wusste, um was es sich dabei genau handelt. Nach einiger Zeit konnte ich aus dem Zusammenhang heraushören, dass es sich wohl um etwas Kulturelles handelte.
Auf einmal kursierte der Witz, der Röstigraben befinde sich in etwa da, wo die Durchsage „man solle auf die Tasche gut Acht geben“, zu hören ist. Et voilà „La visibilité de l’invisible.“ Auf einmal konnte man den Röstigraben nicht nur hören, sondern auch an einer beliebigen Stelle, auf dieser Strecke draussen, an der Landschaft als Markierung festhalten. Und wenn man dort nicht aufhört, so trägt man plötzlich den Röstigraben überall mit sich hin.
Den Bachelor in Internationalen Beziehungen schloss ich im 2009 mit der Bachelorarbeit über Adam Smith’s Werk „Der Wohlstand der Nationen“ ab.
Die nächste Station hiess Praktikum in der Abteilung Statistik an der Kosovarischen Nationalbank in Pristina (2009), da ich in Genf den Entschluss fasste, ins Herkunftsland zu reisen, um die Frage näher zu durchleuchten. Die Kombination aus Auslands- und Praxiserfahrung im Alter von 23, lieferte interessante Erkenntnisse über das Herkunftsland. Aber auch persönliche Begegnungen, erweiterten meinen Horizont. Unter anderem lernte ich Personen kennen, welche während der Kriegszeit in Deutschland Schutz suchten, dort die deutsche Sprache erlernt hatten und anschliessend zurück im Herkunftsland sich wieder eingliedern wollten. Zwar konnte ich zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht meine Frage beantworten, aber die Lösung rückte schon ein wenig näher.
Die nächste Station hiess Volkswirtschaft im Master an der Universität in St. Gallen. Auch an der Universität in St. Gallen hatten wir hervorragende Professoren welche Hinweise auf meine Fragen liefern konnten. Gleich zu Beginn des Studiums (Februar 2010) arbeitete ich während sechs Monate als Praktikant Business Performance Analyst zu 100% in Zürich und konnte dort weitere interessante Arbeitserfahrungen sammeln. Danach entschied ich mich im Alter von 25 mit zwei weiteren Studenten die Baruti in Kosovo zu gründen (2011).
Die Idee zur Unternehmensgründung entstand aus der Kombination von einigen Lebensabschnitten:
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Die Frage „Warum es im Herkunftsland nicht so ist wie im Ankunftsland?“
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Die Beschwerde „Wofür ich neben dem Gymnasium arbeiten musste?“
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Die internationale Sicht aus Genf.
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Die Bekanntschaften während dem Auslandsaufenthalt
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Der Wettbewerbsgedanke in St.Gallen.
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Die technische Entwicklung dank der Verbreitung des Internet.
Aus der Verknüpfung dieser Lebensstationen entstand die Baruti, welche heute über 300 MitarbeiterInnen zählt. Baruti bedeutet übersetzt so viel wie Schiesspulver. Ich habe damals diesen Namen aus vielerlei Hinsicht ausgewählt: Um darauf hinzuweisen, dass das Balkan Gebiet seit über 100 Jahren als Pulverfass gilt und bereits zwei Mal Europa vernichtet hat. Damit sich dies kein drittes Mal wiederholt, beabsichtigte ich rechtzeitig einen Paradigmenwechsel in Kosovo vorzunehmen. Die Menschen dort sollen Entwicklung, Sicherheit und Wohlstand nicht mit Waffen sondern mit Bildung, Austausch und Verständnis für die Verhältnisse anderer Menschen in Verbindung bringen.
Wir konnten mit Baruti etwas Einzigartiges in Prishtina erschaffen: eine Abbild Schweizer Werte in Kosovo. Aus irgend einem Grund habe ich jedoch zu diesem Zeitpunkt Bildung nicht mit dem Lehrerberuf in Verbindung gesetzt.
Nach dem Ablegen meiner Beichte und bewusst gewählter Neuorientierung im Leben habe ich nun entschlossen in den kommenden Jahren selber den Lehrerberuf anzutreten. Auch heute steht uns ein grosser technologischer Wandel bevor, wie damals der Rundfunk. Ich möchte die nächsten Jahre damit verbringen, das Interesse an Bildung zu wecken, indem ich in die Fussstapfen meines Vaters trete und online Lernvideos zu allgemeinen Themen veröffentliche.


